„Die Zahlen sind dramatisch falsch“
Wie ist die Impfquote – und wann endet die Pandemie? Beide Fragen sind aktuell kaum zu beantworten, kritisiert der Medizinstatistiker Gerd Antes. Im Interview fordert er eine großangelegte Studie, um den Immunstatus der Deutschen zu erfassen. […]
Wir lavieren gegenwärtig durch diese Krise, indem wir versuchen, durch Impfen und natürliche Infektion ein Stadium maximaler Immunisierung bei minimalen Verlusten zu erreichen. Aber abgerechnet wird zum Schluss. Wir wissen nicht, was in den nächsten zwei Wochen passiert. Meine Kritik ist seit März 2020 dieselbe: Wir brauchen eine Kohorte von 40.000 bis 50.000 Deutschen, die sauber strukturiert die Gesellschaft abbildet, damit wir über Blutproben und Tests dieser Menschen genauer sehen können, wie der Immunstatus der Gesellschaft ist. Das ist bis heute versäumt worden und das fällt uns jetzt wieder auf die Füße.
[…] Das, was die Bevölkerung zu recht verrückt macht, ist doch, dass die Zielwerte ständig steigen. Erst heißt es, 76 Prozent der Deutschen müssten vollständig geimpft werden. Dann sagt die Leopoldina, unter 90 Prozent wird es nie reichen. Diese Zahlen sind dramatisch falsch. Der Puffer, der uns davor schützt, dass wir die Kontrolle verlieren, ist die Summe der vollständig Geimpften – wobei wir nicht mal diese Zahl wirklich kennen – und der natürlich Immunisierten. Mit einer Kohorte wüssten wir, wo wir stehen und was wir noch schaffen müssen. [rp-online.de]
Datenbasis verbessern
Infektion bedeutet nicht Erkrankung, ein positiver PCR-Test ist nicht gleichzusetzen mit Infektiosität. Zur Beschreibung der bevorstehenden Situation ist die reine Zahl von gemeldeten Infektionen nicht geeignet. Vielmehr muss zwischen Infizierten und Erkrankten unterschieden werden und es gilt die Krankheitsintensität und deren Folgen in den Vordergrund zu stellen.
Auch bedarf es dringend Daten darüber, wer sich infiziert (junge Menschen, Ältere, Vorerkrankte, Geimpfte, Ungeimpfte, Genesene), wo dies geschieht (berufliches/privates Umfeld, Alten- und Pflegeheime, Schulen, KiTas, ÖPNV, Innenräume etc.) und welchen Einfluss bspw. die Saisonalität hat.
Komplexe Geschehnisse wie eine Pandemie lassen sich nicht mit Einzelwerten beschreiben und steuern.
Wir fordern weiterhin eine deutschlandweite Kohortenstudie, in der mittels einer systematischen repräsentativen Stichprobe über alle Altersgruppen hinweg die erforderlichen Daten erhoben werden und somit das reale Infektionsgeschehen und die damit verbundene Krankheitslast abgebildet wird.
>>> Ad hoc Stellungnahme Nr. 5 von u.a. M. Schrappe
„Das ist steinzeitmäßig“
Auch nach zwei Jahren Pandemie fehlen wichtige Daten, um die Infektionslage einzuschätzen. Mehr Digitalisierung, bessere Statistiken – Experten erklären, was nun geschehen muss. […]
Hospitalisierungsrate
Seit Monaten kritisieren Experten massive Probleme bei der Berechnung der Hospitalisierungsrate. So werden beispielsweise nur Patienten einberechnet, die innerhalb der vergangenen sieben Tage positiv getestet und als Corona-Fall gemeldet wurden – oft liegen jedoch mehr Tage zwischen Test und Krankenhauseinweisung, diese Patienten werden nicht mitgezählt. Zudem gibt es einen enormen Meldeverzug, weil die Daten dem RKI teilweise erst Wochen später gemeldet werden. Andere Faktoren wiederum lassen die Hospitalisierungsrate eher zu hoch erscheinen: Häufig ist die Infektion nur ein Zufallsfund bei Patienten, die eigentlich aus einem anderen Grund in die Klinik gekommen waren. Dennoch gelangen sie als Corona-Patienten in die Statistik. […]
Impfquote
Wie viele Menschen in Deutschland bisher geimpft wurden? Lässt sich nur grob schätzen, weil viele Ärztinnen und Ärzte offenbar nicht alle Impfungen ans RKI meldeten. Die im „Impfquotenmonitoring“ berichtete Impfquote sei nur als „Mindest-Impfquote“ zu verstehen, erklärte RKI-Chef Wieler. […]
Kliniken melden Fälle bis heute per Fax
Die Gesundheitsämter kommen mit der Bearbeitung der Fälle und den Meldungen ans Robert-Koch-Institut (RKI) kaum hinterher. Während die Labore ihre positiven Befunde in der Regel digital an die Ämter übermitteln, trudeln aus den Kliniken Meldungen über Infektionen mit Technik aus dem letzten Jahrhundert ein. […]
„Das ist steinzeitmäßig“, schimpft der Medizinstatistiker Gerd Antes. „Die Philosophie und die technischen Fähigkeiten, die hinken völlig hinterher“, so Antes im Gespräch mit ZDFheute. Auch der Expertenrat der Bundesregierung kritisiert die Situation mit deutlichen Worten: „Gerade bei der Hospitalisierung zeigt sich das eklatante Defizit der Verfügbarkeit zeitnaher Daten, und zwar bundesweit wie auch regional aufgelöst“, heißt es in einer Stellungnahme. [zdf]
